Dienstag, 30. August 2016

Teil 8: Das Hühnchen in mir

"Ich war nicht ganz ehrlich zu Dir", sagt mir Leonardo als wir von unserem Ausflug nach Spanien zurück sind. Ich bin danach quasi direkt in sein Büro gestürmt wie Alban Lekaj auf das Tor unserer Gegner. Ich habe Leonardo gefragt, was das alles soll: Wieso denn nun das Video? Wieso das Verschwinden von Daniele? Was hat das alles zu bedeuten? Und jetzt ist er tot. Mein Verlangen nach Erklärungen ist so groß als wäre es ein maslowsches Grundbedürfnis.

Leonardo bleibt ruhig. Er legt die Hände in den Schoß, nimmt per bedächtig an die Decke gerichtetem Blick Telefonierhaltung ein - dann macht er mir ein Geständnis.
"Es gibt einen Grund, warum ich nicht wollte, dass Du mit Ivan sprichst", sagt mir mein Trainer. "Als er nach dem Wolfsburg-Spiel hier war, meine ich. Er hat da versucht, uns zu erpressen."
Wahrscheinlich sollte mich das jetzt überraschen. Oder sogar erschrecken. Aber in der Tat empfinde ich das als einfach nur plausibel - zumindest als plausibler als die Theorie vom durchgedrehten Daniele, der ein Video aufgenommen hat und danach verschwunden ist.

Leonardo klärt mich auf: Am Morgen nach meiner 'Tat' hat Ivan meinem Freund Fabio nicht einfach eine kurze Nachricht mit dem Inhalt dieses Videos geschickt. Ivan hatte diverse wesentlich genauere Infos über den Ablauf des Abends parat - mit dem klaren Fingerzeig, dass er zur Vermeidung der Einschaltung der Polizei gerne mit Leonardo persönlich sprechen wolle.
Der gewährte ihm auch dieses Gespräch: Direkt nach dem Spiel gegen Wolfsburg trafen sich die Beiden. Ivan hat Leonardo dann eröffnet, dass er bereit sei, die geforderten 50 Millionen für unseren Spieler Mario Mocic zu bezahlen - Allerdings erwarte er im Gegenzug zu der Gefälligkeit, die Ivan ihm mit einer Nichtveröffentlichung des Videos erweist, dass man nur das Inter Mailand-Angebot für unseren Linksverteidiger annehme. Es ging also um den Transfer - und so langsam verstehe ich, wie der Kerl es geschafft hat, aus einem fast nicht mehr solventen italienischen Verein eins der beiden europäischen Spitzenteams zu machen. Und Ivan hat sich nicht nur alle anderen Konkurrenten einverleibt - Jetzt legt er sich zu guter Letzt auch mit uns an.
In Ivans Denken jedenfalls hatte Leonardo jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder er ignoriert Ivans Forderung und ruiniert so mit oder ohne Polizei durch die Veröffentlichung des Videos seinen eigenen Ruf sowie den Ruf des Vereins oder er nimmt das Angebot für einen ohnehin in die Vitrine gestellen Spieler an - für den Unternehmensberater Cordoba wohl eine einfache Rechnung. Womit Ivan aber nicht rechnete, war, dass Leonardo schon nach der Nachricht vom Video alle Hebel in Bewegung setzte, um im Gegenzug die Vergangenheit von Ivan gründlich zu durchleuchten.
Es war nicht besonders schwer, belastendes Material über den Kolumbianer zu beschaffen - vor allem mit Mitarbeitern wie Fabio. Schnell setzte der seine Kontakte in die italienische Fußballwelt ein und sammelte binnen einer Woche Hintergrundinformationen über den Weg von Ivan in den Vereinsvorstand von Inter Mailand, seine Art der Geschäfts- und Transferabwicklung und private Konten auf den Cayman Islands. Genug, um gleich mehrere solcher Erpressungsversuche fallenzulassen. Heraus kam dabei die dritte Möglichkeit: Ivan zog sein Angebot zurück.
"Offenbar beseitigt er gerade die Spuren", meint Leonardo grüblerisch.

Das ist mir aber ehrlich gesagt vor allem eins: völlig wurscht. Bei aller Ablehnung dieser Kuriosität der Fußballwelt ist es für mich nun an der Zeit, die Maske der Seriösität fallenzulassen. Ich setze also keine ähnlich grüblerische Miene auf, betrauere nicht weiter den Tod eines Mannes, den ich eigentlich gar beziehungsweise nur kurz kannte und nutze die Gelegenheit, um mich einfach zu bedanken - denn das einzige, was sich gefühlsmäßig in mir breit macht, ist Erleichterung.
Ich bedanke mich bei Leonardo für seinen Einsatz. Ich danke ihm für seine Unterstützung, für seine Loyalität und liege ihm verbal in den Armen für alles, was er für mich auf sich geladen hat. Bei jedem anderen Verein wäre ich wahrscheinlich einfach ad acta gelegt und bei der Polizei angezeigt worden; schließlich gibt es noch andere Assistenten auf der Welt - aber das ist nicht Leonardos Stil.
Leonardo steht zu seinen Mitarbeitern - fast wie ein Vater zu seiner Familie. Das muss auch der Grund dafür sein, dass Ivan tatsächlich geglaubt hat, er würde hier auf diese Weise durchkommen: Nur ein Leonardo würde sich derart für seine Mitarbeiter einsetzen. Kein anderer.
Überraschenderweise übt sich aber auch Leonardo in Demut, indem er sich entschuldigt. Es war zwar aus seiner Sicht notwendig, aber er hält nichts von Lügen, sagt er mir - "Ich hätte Dich von vornherein vollkommen einweihen sollen. Aber das soll sich von jetzt an ändern."
Ich würde ihm am liebsten heulend in die Arme fallen.

Die Zeit danach vergeht wie im Flug - Nicht nur die Gewissheit, den Fall verstanden zu haben und dass mir keine Gefahr mehr droht, sorgt für meine Fröhlichkeit: Auch die guten Leistungen unserer Mannschaft tragen dazu bei. Im DFB-Pokal-Halbfinale gegen Hoffenheim verschenken unsere Jungs zwar eine 2:0-Führung und vergaloppieren sich im Elfmeterschießen, aber in den beiden anderen Wettbewerben kommen sie in Richtung des Titels entscheidende Schritte weiter.
In der Bundesliga besiegen Leonardos Männer erst Dresden (2:1), unterliegen dann Karlsruhe (0:1) und schießen anschließend Meisterschaftsmitbewerber Borussia Dortmund mal wieder aus dem eigenen Stadion (4:1). Weil Bayern gleichzeitig nur 3:3 gegen Gladbach spielt, hat man damit auch gleichzeitig den zweiten Bewerber um die Meisterschaft auf Abstand gestellt - Mit sechs Punkten Vorsprung bei zwei verbleibenden Spieltagen hat man die Schale schon so gut wie sicher.
Auch in der Champions League zieht man der Mannschaft von Eric Dosedal die Lederhosen aus: Nach einer 1:2-Niederlage im Halbfinal-Hinspiel schießen die Jungs auch in diesem Wettbewerb die Bayern aus dem Titelrennen (1:0) und stehen damit zum vierten Mal in Folge im Finale. Der Gegner dort ist allerdings gleich zweifach unangenehm, denn erstens handelt es sich dabei neben uns um die härteste Nuss der Fußballwelt und zweitens trägt mein inneres Waterloo den gleichen Namen: Inter Mailand. Bis zum Finale ist es allerdings noch reichlich hin und so habe ich Zeit, weiter emotionalen Abstand zu den Geschehnissen zu gewinnen.
Leonardo ist dabei eine tatkräftige Unterstützung: Er hilft mir nicht nur verbal, denn wir besprechen in dieser Zeit so ziemlich alles, sondern sorgt auch noch für materielle Ablenkung - An seinem Geburstag spendiert er seinen engsten Mitarbeitern jeweils eine Überraschung ("Ich habe ja eigentlich schon alles. Jetzt wird es Zeit, dass mal die Anderen etwas geschenkt bekommen"). So erhält Fabio zum Beispiel eine von Leonardo ersteigerte Limousine, die im zweiten Weltkrieg angeblich Benito Mussolini umhergefahren haben soll, und mir schenkt unser Trainer eine satte Gehaltserhöhung. Mein Monatssalär beträgt jetzt 35.000 Euro - Ein ganz schöner Batzen Geld und eine ganz schön große Möglichkeit zur Ablenkung.

Bis zum Ende des Monats gehe ich wieder mehr und mehr meinem regulären Job nach und koordiniere die Transfer- und Kaderplanungsaktivitäten des Vereins gemeinsam mit Fabio - ganz im Sinne unseres Meistertrainers natürlich. Neben einigen Zu- und Abgängen in der zweiten Mannschaft des Vereins steht vor allem ein Name auf dem Programm: Es ist der hoch gehandelte Mario Mocic - Er und sein Berater haben sich nach unserem Go nämlich mehrfach mit den Vertretern von Real Madrid zusammengesetzt und nach Bergen von Papierkram melde ich dann gegen Ende des Monats endgültig Vollzug: Mario Mocic wechselt nach Ende der Saison für 50,5 Millionen zu Real Madrid. Es ist der teuerste Transfer unserer Vereinsgeschichte, sogar noch teurer als der Transfer unseres Superstürmers Manol Gochev vor einigen Jahren zum AC Mailand.

Damit sind zwei Sachen klar: Wir werden unser Festgeldkonto nach Beginn der Transferphase zum ersten Mal offiziell auf weit über 700 Millionen Euro erhöhen und sind damit der zweitreichste Verein der Welt (nach dem FC Barcelona) - und in der kommenden Saison streiten sich der Däne Michael Lumb und der immer etwas seltsam wirkende Dresdner Patrick Richter auf der linken Abwehrseite um einen Stammplatz.

Auch im Mittelfeld gibt es Neuigkeiten: Für unseren Kapitän Philipp Röppnack gibt es nämlich mittlerweile eine ganz konkrete Anfrage des englischen Meisters Manchester City. Die bieten - wie mir deren Vereinsvertreter in einem extrem höflichen Schreiben in einer Mischung aus Oxford-Englisch und dem Englisch, das Engländer wohl in den Gedanken saudi-arabischer Scheichs sprechen, mitteilt - genau 13,5 Millionen Pfund (also etwa 15,5 Millionen Euro) für Röppnack.
Somit steht als nächstes ein Trip ins sonnige Manchester an, das dank Klimawandel und Erderwärmung einen wunderschönen Strand beherbergt, an dem man es sich nebst öligem Wasser und Designer-Müllbergen ziemlich gut gehen lassen kann. Zunehmend wird Manchester von willigen Badetouristen überschwemmt und genau deshalb ist es der richtige Ort für einen Reisefan wie Fabio.

Wir verabreden daher, einen Nachmittagsflug auf die sonnige Insel zu nehmen. Es ist Anfang Mai und nach Wochen des anstrengenden Aktenjonglierens freue ich mich auf ein bisschen Ausspannen in der Sonne. Nebenbei verhandeln wir dann ein bisschen mit den Vereinsvertretern.

Fabio und ich treffen uns also am Mittag des 9. auf dem Vereinsgelände. Bevor wir zum Flughafen aufbrechen, genießen wir in der Geschäftsstelle die Reste des Buffets, die ein indischer Investor soeben im Konferenzraum zurückgelassen hat. Für die Inder war es wohl noch ein wenig zu früh für warmes Essen, umso mehr bleibt also für uns übrig: Ich genehmige mir ein gut gewürztes Hühnchen Masala, Fabio löffelt sich eine große Portion Halva rein. Dabei folgen letzte Unterweisungen vom ebenfalls anwesenden Leonardo.
Dann fahren wir mit meinem Dagger GT in Richtung Flughafen. Die Maschine sitzt eins a auf der Straße, wir hören laut die Rugby-Hymne "World in union" und Fabio gackert begeistert mit während er auf meinem Beifahrersitz fröhlich hin- und herwackelt - Die Idee, meine Gehaltserhöhung als Anreiz zu nehmen, endlich vom Firmenwagen auf ein eigenes Auto umzusteigen, macht also nicht nur mir Spaß.
Am Airport angekommen nutzen wir die Zeit bis zum Abflug, um das Bruttoinlandsprodukt des Flughafens voranzutreiben. Im Relay entdecke ich überraschend eine Ausgabe von Erich Fromms "Haben oder Sein" - Das Buch hatte mir mal ein Freund geliehen und ich wollte es schon immer mal zu Ende lesen. Darin beschreibt der Autor, dass jeder Mensch sich immer wieder zwischen zwei Lebenshaltungen entscheiden muss: Entweder man wählt das Ansammeln von Ruhm, Geld und Macht (Haben) oder das Verstehen der Bedürfnisse, die man tatsächlich hat. Dies ist laut Fromm der erste Schritt zu wahrem Glück (Sein). Gerne kaufe ich das Werk für 19,99 Euro und Fabio deckt sich aus der reichhaltigen "Auto, Motor & Sport"-Abteilung ein. Danach besuchen wir noch einige andere Geschäfte, zuletzt den Destination-Store. Nachdem ich Fabio davor gerettet habe, in ein trendiges Jugendoutfit zu schlüpfen, machen wir uns dann auf zum Sicherheitsbereich und checken ein. Auch dort gibt es noch eine Menge zu entdecken.

Unter anderem streifen wir einen Ableger von Marc O'Polo. Ich sehe Fabio schon im weiß-grünen Trainingsanzug vor mir, doch bevor ich zur erneuten Heldentat ansetzen kann, meldet sich das Masala-Hühnchen von heute Mittag in meinem Darm und verlangt sofortige Freilassung. Ein denkbar ungünstiger Moment, doch ich habe keine Lust, noch eine halbe Stunde zu warten, um mir kurz vor dem Betreten des Fliegers in die Hose zu machen und verabrede mit Fabio ein Wiedersehen am Terminal. Dann mache ich mich auf in die Katakomben des Sicherheitsbereichs.
Gut, dass man im Flughafen unserer Stadt Toiletten bewerten kann - Seitdem sind die Anlagen nämlich durchgehend sauber. Ich nehme also den Weg an Montblanc und Attitude vorbei und als letztes steht noch die Filialie eines Lebensmittelhändlers der Freilassung meines Hühnchens im Weg - Passenderweise ist es ein Ableger von Heinemann. Dahinter passiere ich eine blaue Tür, gehe den Gang entlang an den Türen von "Women", "Transgender", "Pets & Babies" vorbei und stehe endlich vor den Klo-Anlagen der Männer. Dahinter muss ich nochmal eine leicht klemmende Tür passieren und dann kann mir schließlich eins der gut gepflegten Klos aussuchen, denn die Toilette ist komplett leer - Kein Wunder, denn durch den leicht durch den Raum wehenden Geruch von verstopftem Abfluss könnten selbst die angeschlossenen Pets & Babies abgeschreckt werden, so scharf legt sich der Geruch in die Nase. Offenbar hat die Magie der hervorragenden Klobewertungsidee seit ihrer Einführung also genau zwölf Jahre die Toiletten reingehalten - und ausgerechnet heute löst sie sich in Luft auf. In übelriechende Abflussluft.
Das Hühnchen in mir hat aber kein Mitleid und einzig und allein Erich Fromm und das dringende Bedürfnis etwas rauszulassen verhindern, dass ich bei diesem Geruch wahnsinnig werde. Nach etwa fünfzehn Minuten Verdauungskampf klingelt meine Uhr: Zeit, mich für den Flieger fertig zu machen also.
Nachdem ich mich und meine Hände gründlich gewaschen habe, gehe ich zur Tür. Unglücklicherweise fällt mir erst jetzt der Grund auf, warum sich hier die ganze Zeit niemand auf der Toilette rumdrückt. Vor der nach meinem gewaltsamen Öffnen wieder eingerasteten Tür hing ein Schild: "Gesperrt. Männer bitte zu Pets & Babies" - Ich stehe also vor verschlossenen Toren und habe noch etwa zehn Minuten, um vor Abheben des Fliegers auf das Rollfeld zu kommen.

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