Dienstag, 5. Juli 2016

Teil 4: Moral - das ist, wenn Emre Can moralisch handelt

Ich sitze im Flugzeug auf der Heimreise nach Deutschland und rutsche auf meinem Platz hin und her. Neben mir sitzt Fabio, der sich in ein japanisches Magazin über Autos vertieft hat - in ein japanisches! Vor ein paar Tagen hätte ich das noch zum Anlass genommen, mich über den extraordinären Geschmack unseres Sportdirektors lustig zu machen. Heute sitze ich einfach nur da, schweige und bin wütend und irritiert darüber, dass Fabio entweder der gelassenste Mensch der Welt oder ein riesengroßes Arschloch ist: Immerhin sitzt er hier mit einem potentiellen Minderjährigen-Vergewaltiger! - Wie kann er da ruhig bleiben?

Wir haben nicht mehr viel geredet nach heute Morgen. Ich habe Fabio erklärt, dass ich mich an nichts mehr erinnern kann, er hat Leonardo angerufen und berichtet und unser Trainer, der gerade im Flieger nach Deutschland saß, hat uns sofort zurück nach Hause beordert. Lagebesprechung.
Alles ziemlich rational dafür, dass uns hier das gesamte menschliche Elend entgegenschlägt - manifestiert in meinem Verhalten.

Leonardo hat weiter kein Wort verloren, kein moralisches Urteil über mein Verhalten gefällt, wollte aber auch nicht mit mir sprechen. Entweder bin ich hier also von totalen Soziopathen umgeben oder unser Trainer war mit den Gedanken schon so sehr beim Heimspiel gegen den VfL Wolfsburg am Sonntag, dass er zu keinem anderen Gedankengang fähig war. Aber selbst dann ist er ja eigentlich ein ziemlicher Soziopath, wenn ihn das nur kalt lässt - oder?
Offenbar kann sich hier keiner in meine Lage hineinversetzen: keine Aufklärung, kein wenigstens gespieltes Einfühlungsvermögen - gar nichts.
Fabio hat nun aber wohl doch gemerkt, dass mir die Sache ziemlich nahe geht. Er knistert mit seinem Heft, holt kurz Luft, was bei einem Mann mit seinem Gewicht immer so wirkt als würde er gleich kollabieren, und wendet sich dann an mich.
"Michael, ich weiß, das geht Dir ziemlich nahe", säuselt mein Begleiter.
Aha. Danke. Er will mir wohl die Angst nehmen. Anders ist das Abgehakte danach wohl nicht zu erklären:
"Leonardo ist... nicht so... wie Du denkst", meint Fabio.
Hm? Äh... ähm... ah... Wie... ist er dann?
"Wir verurteilen hier nicht. Das ist hier sein Gesetz."

Äh... okay? Ich kann irgendwie nicht sagen, ob mich das jetzt erleichtert macht oder irritieren will. Auf jeden Fall bin ich kind of: beides. Eher irrtiert wahrscheinlich. Und ich wusste gar nicht, dass es hier Gesetze gibt. Mir ist schon klar, dass Fabio Leonardo länger kennt als ich, aber ich denke schon, dass das unseren Trainer ähnlich juckt wie mich. Oder?
Mein Begleiter ist ein wenig zögerlich.
"Leonardo... erwartet kein... keine Perfektion". Fabio spricht wie ein Holzfäller. "Er will nur.... Loyalität."
Loyalität? Ich gucke ein wenig verblüfft. Loyalitätfordernde Chefs kenne ich eigentlich nur noch aus den alten Filmen vor der Jahrtausendwende, in denen sie die freie Wirtschaft abfeiern und die Chefs dann immer total schockiert darüber sind, dass ihre Angestellten das Angebot annehmen, das ihnen mehr Geld bringt - bei einer anderen Firma natürlich.
Fabio hat aber noch ein wenig mehr zu sagen. Er holt kurz Luft und dann kommt er raus:
"Es gab da einen Spieler", meint er. "Emre Can."
Ich kenne Emre Can. "Der, der wegen irgendwas rausgeflogen ist?", frage ich zurück.
Der macht es jetzt ganz schön spannend. Offenbar soll das so etwas wie eine Lehrstunde in effektiver Vereinsmoral für Anfänger und Freizeitmoralisten werden: Fabio rutscht auf seinem Platz hin und her - offenbar richtet er sein Hinterteil neu aus - und dann stößt er in die Posaune:
"Nicht wegen irgendwas! Wegen Illoyalität!"
Ich gehe ein bisschen in Deckung als er das sagt. Fabio scheint plötzlich wirklich sauer zu sein. Seine Augenbrauen sind zusammengezogen als hätte ich ihn gerade persönlich beleidigt und weil er gerade ziemlich laut herumgepustet hat, konnten wahrscheinlich auch die umliegenden Passagiere ein wenig mithören.
Angesichts Fabios Erregtheit glaube ich tatsächlich, dass Illoyalität innerhalb unseres Vereins so etwas wie eine Sünde ist und mein nächster Gedanke ist dann die Frage, in welcher Sekte ich hier eigentlich gelandet bin.
Meine rechte Augenbraue verhält sich nun definitiv anders als meine linke.
Fabio wird konkreter und dabei - zum Glück - wieder etwas leiser: "Er hat, während es schlecht lief, über den Trainer geredet. Schlecht geredet. Leonardo hat davon mitbekommen und..."

Fabio muss den Satz nicht beenden. Ich kenne die Geschichte von Emre Can. Es war etwas vor meiner Zeit: Der Verein hatte ihn als Megatalent für viel Geld geholt und Leonardo hat ihm entsprechend viel Spielpraxis verschafft - auch, als es damals schlecht lief. Leonardo saß da noch nicht so fest im Sattel wie heute und stand da ziemlich unter Druck, trotzdem hat er an seinen Leuten festgehalten - auch an Emre Can. Wegen irgend einer disziplinarischen Sache wurde er dann aber, obwohl er der einzige Lichtblick am Himmel einer sonst nicht so hellen Mannschaft war, suspendiert. In der folgenden Transferperiode hat man ihn dann sogar verkauft. Danach landete er über mehrere Bundesligastationen in der Bedeutungslosigkeit. Das alles also wegen Illoyalität?

Und was heißt das jetzt für mich? Immerhin habe ich wohl etwas getan, was deutlich schlimmer sein dürfte als das hinterrückse Kritisieren eines Trainers.
Die Antwort erhalte ich als ich am frühen Abend mit Fabio den Flur entlang zu dem Konferenzraum schreite, in dem meine Odyssee begonnen hat. 'Schreiten' ist hier auch tatsächlich das richtige Wort, denn ich komme mir mehr vor wie ein Bediensteter auf dem Weg zur Audienz bei Papst Leonardo dem 58-jährigen denn als gleichberechtigter Gesprächspartner.
Als ich den Konferenzraum betrete, sitzt Leonardo bereits am großen Tisch, entspannt in seiner Haltung und die Kirschlimonade im Anschlag - Unser Trainer erwartet uns bereits. Kurz nachdem wir uns wie üblich begrüßen (Handschlag, Umarmung und Kuss auf die Wange) ist Fabio aber auch schon wieder weg. War er nur da, damit ich nicht ausbüchse und bekomme ich jetzt eine richtig dicke Strafe von meinem Vorgesetzten?

Leonardo erklärt mir, dass Fabio die Sache mit dem Transfer jetzt erstmal allein in die Hand nehmen wird. Er tut das mit einem milden Lächeln - Nicht der päpstliche Untertan also, sondern ein mieser Musterschüler bin ich, der sich vor kurzem das erste Mal so richtig danebenbenommen hat und jetzt gleich eine lebensweise Lektion erhalten wird. Oder lächelt der wirklich aus Freundlichkeit?
Ich hätte mir jedenfalls schon gewünscht, dass Leonardo erstmal nach den Hintergründen meiner Missetat fragt statt mich vor vollendete Tatsachen zu stellen. Schließlich mache ich den Job ja gerne und ich würde auch gerne weiter für den Verein auf Reisen gehen. Damit ist es jetzt aber vorbei. Mit ernsten Worten, die durch weiteres Lächeln vorgetragen werden, sehe ich schon das Unheil meines Lebens auf mich zukommen: Suspendierung, Disziplinarverfahren, Haft. Aber stattdessen erteilt mir Leonardo nur die Anweisung, mich von unserem Zeugwart so einkleiden zu lassen, dass ich morgen früh mit ihm (Leonardo) und den anderen Trainern auf dem Trainingsplatz stehen kann, um die Mannschaft vor dem wichtigen Spiel gegen Wolfsburg zu betreuen. Ich traue meine Ohren nicht.

Ich bekomme also keine Bestrafung? Keine Beurteilung? Und auch keine Beurlaubung? Stattdessen so eine Art Weiterbildung also?
Keine Ahnung, was ich damit anfangen soll. Keine Ahnung, was ich darauf sagen soll. Auch Leonardo schweigt erstmal. Wir sitzen also da, Leonardo fragt noch kurz, ob ich nicht auch was trinken will und als ich verneine ist es dann tatsächlich ruhig. Keine Verurteilung. Keine Lektion. Keine Erwartungen. Keine Moral?
Die Wand ist weiß, die Uhr über der Tür klopft ihre Zeit herunter und wir sitzen nur so da. Was ist das hier?
Erst nach einer Weile macht Leonardo dann weiter. Ich habe nicht das Gefühl, dass er mit mir mit der väterlichen Härte eines Vorgesetzten spricht - Viel eher kommt es mir so vor als scheint ihm das folgende Gespräch peinlich zu sein.
"Also... ich habe das Video gesehen", sagt er und lächelt peinlich berührt.
Ich sage nichts, sondern blicke ihn nur mit einer Mischung aus Scham, Gespanntheit und Verwirrung an.
"Du weißt nicht, was mit Daniele war?", fragt er.
Ich schüttele den Kopf. Komische Frage. Absurde Frage. Eine absurde Situation.
Leonardo nimmt einen Schluck Kirschlimonade und telefoniert dann mit dem Fußballgott. Diesmal aber nur ganz kurz, denn schon nach einigen Sekunden wendet er sich wieder an mich.
"Du kannst, wenn Du willst, gehen", sagt er - jetzt mit freundlicher Entschlossenheit.
Das soll es also gewesen sein?
"Nimm Dir den Abend frei, schlaf Dich aus. Und wenn Du morgen bei uns auf dem Platz stehst, sieht die Welt schon wieder ganz anders aus." Leonardo redet mit mir als hätte mir jemand mein Spielzeugauto kaputtgemacht und er sei jetzt der, um mich zu trösten. Entsprechend zeigt er mir auch seine ganzen Zähne.

Schlaf Dich aus - Das ist also alles, was er mir dazu zu sagen hat? Das ist der Grund, warum ich zurückgeflogen wurde? Kein Anschiss, keine Moralpredigt? - Ein Lächeln fürs Kind und ab ins Bettchen.
Ich tue wie mir geheißen. Irgendwie bin ich schließlich auch total kaputt. Mein Kopf explodiert. Dieser Tag war die Hölle. Ich verabschiede mich von Leonardo, schlurfe geschafft den Korridor entlang und nachdem ich noch kurz beim Zeugwart vorbeigeschaut habe, steige ich in mein auf dem Parkplatz auf mich wartendes Auto und fahre in die heimischen Federn. Ich habe sowieso keine Kraft, noch lange über irgendwas nachzudenken. Heute nicht mehr. "Moral - das ist, wenn man moralisch handelt" hatte Georg Büchner mal gesagt. Meine Vorstellung von Moral endet heute schon auf dem Kopfkissen vor meinem Schlafzimmerfenster.

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