Dienstag, 26. Juli 2016

Teil 7: Gefährten

Wie erstarrt hocke ich über der Zeitung; das linke Knie auf dem Bett, das rechte Bein am Boden, den linken Arm am Himbeer-Vanille-Gebäck. Und irgendwo drin steht mein offener Mund unter den aufgerissenen Augen, die die sorgfältig platzierte Zeitung drapieren - im Geiste jedenfalls.
Was hat das zu bedeuten? Ivan war doch gestern noch da... hätte er da nicht wenigstens etwas erwähnen... oder Leonardo? Mein Kopf dreht sich. Ich entscheide mich nach einem kurzen Check, ob noch alles da ist, erstmal nicht weiter drüber nachzudenken. Wie auch? Es gibt ja schließlich Wichtigeres zu tun und wir haben noch Termine. Ich schüttele mich, lasse alles stehen und liegen und mache mich auf dem Weg zu Fabio und Auto.
"Wolltest Du nicht Deine Sonnenbrille...?", fragt er mich als ich zurückkomme. Aber ich nicke ihm so einleuchtend zu, dass er den Satz gar nicht beenden braucht, um seine Antwort zu erhalten. Selbst Fabio merkt, dass mir eine Laus über die Leber gelaufen ist, hakt in seiner fabiohaften Art aber nicht weiter nach, sondern überlässt mich meinen Gedanken. Und ich überlasse ihn seinem Smartphone, in das er mit seinen Wurtsfingern hastige Befehle eintippt. Vielleicht spielt er aber auch einfach nur Pacman.

Daniele ist also tot.
Bis zum Abend gelingt es mir nicht, diesen Gedanken aus dem Kopf zu bekommen. Immerhin schaffe ich es aber, mich ab der Stadtführung etwas ablenken zu lassen. Reden darüber will ich gerade eh nicht - und schon gar nicht mit Fabio. Der Typ ist so unsensibel wie ein Stück Toastbrot und als ich beim Abendessen dann doch kurz überlege, das Gespräch zu eröffnen, vergeht mir schnell die Lust dazu als ich sehe wie er seinen Salat schleckt.
Ja, er schleckt - Fabio Paratici hat seine ganz eigene Art, einen Salat zu essen: die des Schleckens. Das sieht dann so aus, dass er sich mit Salatgabel und Messer ein riesiges Salatbündel rollt, dreimal seine Gabel dreht und das Ding nach kurzem Riechen langsam in Richtung Mund führt. Es folgt eine Übung, die aussieht wie zwei Erstklässler bei ihrem ersten Kuss: Er streckt seine Zunge ein wenig raus, tastet damit seine Salatrolle ab und erst dann steckt er sie sich ein wenig in seine Kautaschen. Eklig.

Nach dem Essen steht die erste Verhandlungsrunde mit den Verantwortlichen von Real Madrid an. Wir werden uns aber schnell klar, dass wir keine weitere Verhandlungsrunde brauchen: Real ist bereit, die geforderten 50,5 Millionen Euro zu bezahlen und wir geben das Go für eine erste Sondierungsrunde mit Marios Berater - Alles, was jetzt in dieser Richtung passiert, ist nicht mehr unser Bier.
Fabio freut sich, dass er den morgigen Tag frei haben wird, bevor wir am Mittwochabend erneut mit unseren Freunden von Real verabredet sind und zeigt mir auf dem Rückweg ins Hotel Fotos von seinen mitgebrachten Badehosen. Er bittet um Tipps für seinen morgigen Ausflug an den Hotelpool.
Mir ist das zu viel. Ich kann mich gerade noch daran hindern, meinen pummeligen Begleiter mal so richtig anzuscheißen. Ich antworte kurz und knapp und gebe ihm mit einem ernsten Gesichtsausdruck sehr deutlich zu verstehen, dass ich keine weitere Konversation an diesem Abend wünsche - Das kapiert er. Wir wechseln bis zum Hotel also nicht mehr viele Worte und verabschieden uns vor unseren Zimmern in die Nacht.

Als ich meinen Raum betrete, ist da immer noch dieses ungegessene Stück Schokolade auf dem Bett - und darunter: diese Zeitung. Die Zeitung, in der steht, dass sich Daniele Rucchi umgebracht hat. Ich kann das überhaupt nicht zuordnen: Hatte ich es da mit einem Gestörten zu tun? Hatte ich damit überhaupt etwas zu tun? Hängt meine Situation und Danieles Fall... Ich zucke zusammen und halte mir den Schädel. Kopfweh. Ich räume Zeitung und Süßigkeit zur Seite und lande in voller Montur auf meinem Bett.

Als Nächstes reite ich auf einem angenehm gebräunten Pferd dem Sonnenuntergang entgegen. Oder ist es der Sonnenaufgang?
Das Pferd hat gut gepflegte, leicht gelockte schwarze Haare, die selbst durch diesen Ritt nicht in Unordnung gebracht werden können. Ich versuche, einen Blick auf das Gesicht vom Pferd zu erhaschen und in diesem Moment dreht sich das Pferd ein wenig zu mir um: Es ist Leonardo.
Leonardo spricht mit mir über Finanzen wie ein stolzer Vater sich von seinem Sohn die ersten Mathehausaufgaben erklären lässt. Ich erkläre ihm die Lage und ernte dafür ein wohlwollendes Lächeln - obwohl er es eigentlich längst besser weiß. So habe ich den Mann kennengelernt. Ich sitze als frisch eingestellter Praktikant in der Hauspoststelle und gehe die neuen Aus- und Eingänge durch. Ich sehe einen angenehm gebräunten Mann vor mir und schaue zu ihm auf - nicht der Höflichkeit wegen, sondern weil ich mich frage, wie man in unserer Stadt zu so angenehm gebräunter Haut kommen kann. Ich sehe, dass er schwarze Haare hat.
Leonardo fragt mich, ob er die an den Trainer gerichteten Eingänge direkt mitnehmen könne, aber ich komme nicht umher zu glauben dass er da ist, um mich etwas näher kennenzulernen. Und siehe da - recht schnell kommen wir auf das überragende Ergebnis von meinem Volsteen-Test zu sprechen, der mich bis hier in die Geschäftsstelle geweht hat. Er sagt mir, dass er meine Vorschläge für die finanzielle Konsolidierung der Umweltorganisation sehr interessant fand und lädt mich ein, gemeinsam ein paar lebensnähere Fälle zu erörtern. Wenig später sitze ich mit ihm im Konferenzraum und wir gehen die Verträge einiger Stammspieler durch. Ich erkläre ihm, dass eine weitere Verpflichtung von Heung-Min Son aus fußballerischer Sicht definitiv zu teuer ist, weise aber auf die zwischenmenschlichen Effekte hin, die eine Weiterbeschäftigung seines Kapitäns hat. Ich zeichne ihm im gleichen Stil wie bei meinem Lösungsvorschlag für die Umweltorganisation ein Rechenschema auf, das alle Pros und Contras einer Vertragsverlängerung abdeckt. Bei der Lösung der Gleichung kommen wir auf 69 - Das ist ein überdurchschnittliches Ergebnis. Leonardo schaut mich interessiert an. Während unseres Gesprächs reiten wir weiter. Die Sonne brennt auf meiner Haut. Ich fange an zu schwitzen.

Ich wache schweißgebadet auf. Mein Mund fühlt sich staubtrocken an. Wasser wäre jetzt gut. Aber neben meinem Bett ist ja die Minibar. Jetzt müsste ich nur noch Lust haben, mich zu bewegen - Mit halboffenen Augen fokussiere ich die Bar und versuche meinem Körper zu befehlen, dass er sich zu bewegen hat. Zum Glück serviert mir im gleichen Moment Daniele einen Drink. Wir sitzen mit einigen netten Ukrainerinnen in meinem Zimmer und haben Spaß. Wir tauschen Freundlichkeiten aus, reden über Gott und die Welt, weniger über Fußball und genießen Drinks. Als ich Daniele von meinem Ritt auf Leonardo erzähle, kippt aber die Stimmung und er lacht mich aus. "So können wir mit Dir keinen Film drehen", meint eine Blondine und Daniele wippt zustimmend mit dem Finger. Ich falle mit dem Kopf voran nach hinten und liege wieder in meinem Bett - Natürlich wusste ich diesmal von Anfang an, dass es nur ein Traum ist.

Diese Erfahrung ist nun die Initialzündung. Ich stehe auf, gehe zur Minibar und hoffe auf einen Drink. Leider ist in der Minibar kein Wasser. Auf dem langen Schranktisch neben der Tür befindet sich der Grund: Es ist Fabio. Er sitzt da in seinem kleinen, fetten Koboldkostüm und rührt in seinem Topf voller Gold. In seinem Topf ist aber kein Gold, sondern Salat und er rührt auch nicht mit dem Löffel, sondern mit seinen (wegen des Salatöls) ziemlich fettigen Fingern. Er habe das Wasser gebraucht, um seinen Salat zu würzen, sagt er. "Aber Du trinkst doch eh nur Milch?"
Er lädt mich zu einem Ausritt in Richtung der rosa Wolken ein, die er gerade über der Stadt gesehen hat. Ich schaue zum Fenster und tatsächlich: dicke Wolken in der Farbe Rosa.
"Die sind nur wegen Dir da", sagt er, aber er merkt, dass ich mich weigere. Nach einem kurzen Disput willige ich dann doch widerstrebend ein, doch bevor ich mitgehen kann, dämmert es meinem Gehirn - Ich höre ihn noch kurz sagen "Ich seh Dich dann am Ende des Regenbogens" und dann bin ich wach. Aber nett von ihm, dass er mir vor Ende meines Traums noch rechtzeitig Bescheid gesagt hat.

Klitschnass liege ich auf dem Bett. Meine Füße und mein Oberkörper fühlen sich an wie aus Stein - Ich würde mich gerne bewegen, aber meine Muskeln verweigern alle Befehle. Also liege ich ein, zwei Ewigkeiten auf diese Art und Weise rum und nachdem ich kein weiteres Mal einschlafe, entschließt sich mein Körper dann doch zu einem Weg zur Minibar. Ich nehme eine Flasche Sprudel und gieße mir ein. Nach der Erfischung fange ich an, in meinem Zimmer umherzuwandern. Man kennt das ja: Erst ist man todmüde, aber dann hat man einmal etwas gemacht und kann nicht mehr einschlafen. Weil das aber auch nach dieser kurzen Wanderung nicht geht, fange ich an, weitere Energie abzubauen, indem ich mache was man so macht wenn man alleine und schlaflos in Madrid ist: Ich mache den Fernseher an, spiele ein bisschen an mir rum, überlege, ob ich nicht ein wenig an die frische Luft gehen soll - und irgendwann liege ich dann doch auf meinem Bett und schlafe weiter.

In meinem nächsten Traum steht plötzlich die Frankfurter Rap-Legende Haftbefehl vor mir. In seiner ihm eigenen Quakstimme gackert er etwas davon, dass das Ficken meiner Mutter das höchste zu erstrebende Ziel moralphilosophischen Denkens und Handelns sei. Wir sind in meinem alten Kant-Kurs an der Uni - Hafti ist der Dozent. Mit der Altherrenstrickjacke und Krawatte meines Dozenten steht er da und erhebt streng den moralischen Zeigefinger. Durch die von Carglass reparierten und ausgetauschten Scheiben seiner spiegelverglasten Streberbrille blitzen eifrig seine Augen. Dann verwandelt er sich in ein grünes Einhorn und galoppiert aus dem Saal.
Erst dann fällt mir auf, dass Daniele die ganze Zeit hinter mir saß und mir Sachen ins Ohr flüsterte. Neben ihm die ukrainischen Damen, kichernd und gackernd - Offenbar mögen sie Hafti. Oder sie mögen Einhörner. Mir aber wird das zu viel: Ich renne raus, dem Dozenten hinterher und die Wendeltreppe lang. Während ich auf ihr hinabsteige verwandelt sie sich in einen Weg nach oben. Es ist das Ende des Regenbogens. Sie stehen alle da und winken: Fabio, mit ihm Leonardo und meine Mama. Haftbefehl ist nicht da, aber das ist mir egal. Alle strahlen. Endlich mal ein schöner Traum.

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