Dienstag, 19. Juli 2016

Teil 6: Die Wölfe im Tempel der Tugendhaftigkeit

Am Sonntag erlaubt mir Leonardo noch eine Ecke näher ans Tagesgeschäft heranzurücken als beim Training zuvor: Ich darf im Bundesliga-Spiel gegen den VfL Wolfsburg mit auf der Bank sitzen - und so hocke ich also an einem sonnigen Sommertag gemeinsam mit den Trainern auf den am besten gepolsterten Sitzkissen der Arena, direkt zwischen Leonardo zu meiner rechten Seite und dem deutschen Bastian zu meiner linken. Neben Leonardo gibt es nur noch einen weiteren Platz: Den besetzt unser zweiter Co-Trainer, der italienische Sebastian - wenn er denn mal sitzen würde. Während Leonardo neben mir entspannt das bunte Treiben auf dem Feld beobachtet, erweist sich unser weitaus jüngerer Italiener nämlich als eine Art Acting Boss des Trainerteams: Immer wieder kommentiert er Spielzüge der gegnerischen Mannschaft, kommandiert unsere Jungs, schreit, gestikuliert und versucht, die Mannschaft zu neuen Höchstleistungen anzutreiben. Nur, wenn wir den Ball haben, ist er nicht so wild und lässt die Jungs auch mal spielen. Da das mit andauerndem Spielverlauf immer häufiger der Fall ist, geht er mehr und mehr zur Passivität über.

Leonardo schaut sich das alles in Ruhe an - Offenbar gibt es hier eine interne Absprache, die ich als ständig Herumreisender im organisatorischen Bereich bisher gar nicht so mitbekommen habe: Sebastian ist - wie im vorgestrigen Training - für den operativen Teil des Coachings zuständig und Leonardo lässt diesen seine Erfahrungen sammeln, dasitzend und beobachtend, und schaltet sich nur bei Auswechslungen oder größeren taktischen Veränderungen ein. Hin und wieder assistiert Bastian unserer Atomameise beim Anweisungenbrüllen - Insgesamt scheint es aber so, als wäre das alles überhaupt nicht nötig, weil Anspruch und Spielidee unseres Leonardo derart in Kopf und Bein aller Beteiligten stecken, dass die Spieler sie auch ohne jegliche Betreuung abspulen würden.

Obwohl es gegen den Tabellenvierten geht, hat Leonardo eine Art bessere B-Elf ins Rennen geschickt. Der Gedanke dahinter dürfte wohl das Schonen wichtiger Spieler für die anstehenden englischen Wochen sein: Vor Stammkeeper Cassar verteidigen so mit unserem in die Länge geschossenen Innenverteidiger Markus Rott und Heißsporn Thomas Schuler auf Rechts nur zwei Kandidaten für die erste Elf - zwischen den Beiden ist Ersatzinnenverteidiger Felix Schröter ins Team gerückt. Auf der linken Abwehrseite verteidigt der potentielle Nachfolger unseres möglichen 50 Millionen-Transfers Mario Mocic: Es ist der Däne Michael Lumb.
Im Mittelfeld darf neben Luca Mariani einer unserer beiden Jungspunde ran: Der Holländer Dennis Nainggolan. Christian Steger hat Leonardo heute mal wieder hinter der Spitze aufgeboten, die aus dem Sturmjuwel Antonio Boscolo besteht. Die Beiden werden flankiert von Daniel Smith und dem bärtigen Andrea Costanzo.
Unsere Häuptlinge finden sich dagegen alle auf der Bank wieder: Sowohl Abwehrchef Carmine Gargiulo als auch Käpt'n Philipp Röppnack, Flügelflitzer Armiche und sogar Topstar Alban Lekaj - keiner von ihnen steht in der Startelf.

Angesichts dieser vielen Veränderungen muss sich die Mannschaft auch erst einmal finden und das Highlight der Anfangsphase ist Sebastians fast unaufhörliches Geschnattere am Spielfeldrand. Weil ich keine wirkliche Aufgabe in dieser Situation habe, fängt mein Gehirn deshalb mit einer Sache an, die es immer gerne macht, wenn ich mich langweile: Es lädt mich ein zu einer wilden Gedankenfahrt in die Vergangenheit und wirft noch einmal einen Blick auf scheinbar wahllos ausgewählte, längst vergangene Situationen.
Ich denke an meine Anfangstage in unserem Verein: Schon damals als die Vereinsverteter vor meiner Tür standen und mir ihr ernsthaftes Interesse bekundeten hatte ich das Gefühl, dass sie eine seltsame Form der Freiheit unter ihren Deckmänteln besäßen - Einerseits waren sie zwar im Dienste des Vereins unterwegs und damit strengen Weisungen unterworfen, andererseits hatte ich das Gefühl, dass sie bei unerwarteten Wendungen oder größeren Entscheidungen nicht scheuen brauchten, diese ohne jede Rückfrage in die Vereinszentrale zu fällen. Möglicherweise kannten schon damals alle den eingeschlagenen Weg. Es war schon damals Leonardos Weg.

Selbstbewusst stolzierten die beiden Anzugträger dann auch in meiner Wohnung herum und machten ihr Angebot: 50.000 im Jahr für eine ambitionierte Stelle - Assistenz im Marketing. Finanzen, Sponsoren, Fanclubtreffen und anderer Kram also - Ein banal klingender Job, aber der Traum eines jeden Sportmanagement-Absolventen: direkt nach dem Studium bei einem der größten Vereinsunternehmen der Welt anfangen. Teil sein eines eine halbe Milliarde schweren Unternehmens. Mein Vorgesetzter schon damals - jedenfalls auf dem Papier: Leonardo Colombo. Er hat mich in unseren Verein geholt. Er hat mich gefördert und gedeckt - Ihm habe ich im Prinzip meine ganze Karriere zu verdanken. Bis heute. Ob er damals schon von meiner Existenz gewusst hat?

Das Wolfsburg-Spiel nimmt erst nach einiger Zeit Fahrt auf: Nach harmlosen ersten 18 Minuten verlängert Abräumer Luca Mariani einen eigentlich harmlosen weiten Ball per Kopf in die Spitze und plötzlich macht sich helle Aufregung im Stadion breit: 78.000 Ohs plus die erstaunten Gesichter der Wolfsburger Abwehrspieler gehen durch die Reihe, weil Antonio Boscolo plötzlich frei vor Wolfsburg-Keeper Daniel Majer steht. Die Abseitsfahne bleibt unten und unser schon ziemlich fein geschliffener Diamant versenkt das Ding im Eck und dreht dann jubelnd in die Fankurve ab, um seinen 15. Saisontreffer zu feiern. Ein großer Jubelschrei dort bleibt aus - Den Treffer hatte bis hierhin nämlich keiner kommen sehen.
Ich bin glücklich. Nach einem wackeligen Eingewöhnungsjahr zeigt Antonio in dieser Saison endlich, weswegen wir ihn geholt haben: 30 Millionen haben wir für ihn ausgegeben. Nach dieser Saison werden sogar weitere 20 fällig, weil er bereits eine im Ablösevertrag festgesetzte Anzahl an Spielen erreicht hat. Der teuerste Transfer der Vereinsgeschichte - und der erste große Deal, den ich für unseren Klub hauptverantwortlich abwickeln durfte. Viel Kritik musste Leonardo für diese Verpflichtung einstecken - aber selbst Talente sind im heutigen Fußball eben teuer, weil zahlreiche neue Verfahren der Leistungsdiagnostik und Entwicklungspsychologie es ermöglichen, weitaus präzisere Vorhersagen über die Entwicklung eines Spielers zu machen als das noch vor beispielsweise etwa zwanzig Jahren der Fall war.
Ich sehe, dass ich nicht der Einzige bin, der sich über diesen Treffer freut: Auch Alban Lekaj klatscht begeistert mit den Kollegen auf der Bank ab - unser bald 30-jähriges Aushängeschild, das durch den jungen Toni bald vollständig ersetzt sein wird.
Die Antwort der Wölfe lässt allerdings nicht lange auf sich warten: Nicht eine weitere Minute vergeht, da tritt Wolfsburgs Flügelläufer Oliver Markoutz zum Freistoß an. Sein hereingegebener Flankenball findet den Kopf seines Kollegen Kobinian Burger - aber dessen Kopfball ist für den wahrscheinlich besten Keeper der Welt kein Problem: Massimo Cassar taucht ab, macht sich länger als man es einem 1,79-Torwart normalerweise zutrauen würde und kratzt das Ding aus der Ecke. Unsere Katze von San Giljan.

Natürlich sind unsere Jungs jetzt so richtig heiß: Der junge Daniel Smith bedient nach einem Flankenlauf Christian Steger in der Mitte - aber diesmal kann auch Majer parieren.
Die Wolfsburger antworten mit einer Kombination, an der jeder Spieler gefühlte drei Mal beteiligt ist. Irgendwann haben sie dann genug kurzpasskombiniert und unser Ex-Stürmer Johannes Mayr taucht plötzlich frei vor Massimo Cassar auf - um an dessen Tor vorbei zu schießen. Glück gehabt.

Völlig unverständlicherweise flacht die Partie dann aber wieder zusehends ab und so komme ich erneut ins Gedankenschwelgen: Ich denke an den Volsteen-Test, den ich als damals 21-jähriger ablegen musste. Dabei handelt es sich um ein Sammelsorium an schriftlichen Aufgaben, in denen Fragen gestellt werden, auf die es keine klare richtige oder falsche Antwort gibt. Nicht mal Antwortmöglichkeiten gibt es - Vielmehr wird vom Getesteten verlangt, dass er die ihm gestellte Aufgabe kreativ löst und begründet, warum er sich für diesen Lösungsvorschlag entschieden hat. Dadurch erhalten die Auswerter angeblich einen Einblick in dessen Denk- und Charakterstruktur.
Es war kurz vor dem Ende meines letzten Bachelor-Studienjahres als ich diesen Test absolvierte. Wir mussten uns für das vorletzte Semester alle einen Praktikumsplatz suchen und ich hatte mich mehr aus Spaß denn aus Glaube an mich selbst bei unserem Verein beworben. Keine Ahnung, nach welchen Kriterien dann selektiert wurde, aber ich kam durch die erste Vorauswahl und so saß ich als einer von 150 Bewerbern auf ein paar Monate Kaffeekochen in der Geschäftsstelle in einem riesengroßen Saal und machte diesen Test. Wer hätte gedacht, dass ich danach so weit komme? Wer hätte gedacht, wo ich heute bin?

Irgendwann pfeift der Schiedsrichter zur Halbzeit. Bis hierhin war es ein Spiel mit einigen Höhepunkten, das aber ansonsten genau so ereignisarm war wie das Sexualleben vom neuen Papst.
Auf dem Weg in die Kabine treffe ich Fabio wieder. Der steht wie eine Flasche Rotkäppchensekt im Kabinengang und sieht nicht gerade seiner selbst sicher aus, aber als er mich sieht, ringt er sich immerhin zu einem Lächeln durch, macht müde ein paar Schritte auf mich zu und wir klatschen kurz, aber immerhin etwas herzhaft ab.
Irgendwie wirkt Fabio nervös. Mich beschleicht die Hoffnung, dass das Ganze a) nichts mit mir zu tun hat und b) nicht zu viel für die gefühlsarme Knuddelbärigkeit dieses kleinen, dicken Mannes ist. Auf jeden Fall habe ich keine Ahnung, was er hier macht, auf wen er wartet und überhaupt - warum steht er eigentlich hier?

Der Anpfiff der zweiten Halbzeit findet unter ziemlichem Getöse statt. Offenbar haben die Fans beider Mannschaften an den Bierständen der Arena beschlossen, dass es mit so magerer Kost nicht weiter gehen kann und deshalb treiben sie jetzt ihre Mannschaft nach vorne. Blöd nur, dass man offenbar nur den Wolfsburgern gesagt hat, dass das Spiel in der zweiten Halbzeit weitergeht: Nachdem die Wölfe nämlich wenige Momente nach Wiederanpfiff den Ball zwischen Mittelkreis und Strafraum erbeuten, fühlt sich keiner unserer Jungs der Idee verpflichtet, diese mal zu stören - und so schieben sie das Ding in der Spitze ihrem Top-Torjäger Jonas Iser zu und der schaufelt die Murmel an Massimo Cassar vorbei in die Maschen. 1:1.

Leonardo ist 'sauer': Er 'schlägt' mit der Faust einmal kurz auf sein Kissen, verschränkt dann die Arme vor der Brust und macht einen beleidigten Schmollmund. So wie er da jetzt sitzt könnte er aber auch Verstopfungen haben. Es folgt eine 15-minütige Phase des Trotzes des Trainers gegenüber dem Ergebnis und seiner Mannschaft, dann hat er genug und veranlasst einen Doppelwechsel: Es kommen Jungspund Frank Fitz und Flankengott Armiche ins Spiel - zwei neue Leute für die Flügel also. Offenbar glaubt Leonardo, man könne die Wölfe hier durch Flügelspiel in ihr Gehege zurückdrängen - und noch bevor überhaupt dreißig Sekunden vergangen sind, erfahre ich, dass mir schon wieder keine Zeit bleibt zum Zweifeln an den Fähigkeiten unseres großen Trainers, der da offenbar die Wende eingewechselt hat: Wenige Sekunden nach seiner Einwechslung kommt unser flotter Armiche nämlich das erste Mal an den Ball, vernascht den nach der Kugel lechzenden Oliver Markoutz auf der rechten Außenbahn und schlägt dann eine Flanke in den Sechzehner wie sie auch der Flankengott nicht besser hätte schlagen können - Das Fluggerät geht nämlich über einen, den zweiten und auch den dritten Wolfsburger Verteidiger hinweg und landet auf der Brust von Antonio Boscolo, der sich während Armiches Zauberstück an den langen Pfosten gemogelt hat und Daniel Majer nun routiniert verlädt. 2:1.
Tierischer Jubel. Alle freuen sich. Bastian, Leonardo und ich klatschen ab und jetzt hat unser Trainer wieder einen Gesichtsausdruck, der auf ungestörtere Verdauung schließen lässt.
Und es geht weiter: Armiches Einwechslung wirkt sich auf das Spiel auch weiterhin wie die Einwechslung unseres Herrn und Erlösers aus, denn seine Taten sind eine Offenbarung - eine Offenbarung der Schwächen der Wolfsburger Abwehrspieler. In seiner nächsten Szene dribbelt er nämlich erst mehr davon aus als es im Regenwald zu rettende Bäume gibt, dann wird er von einem Gegenspieler im Strafraum gefällt. Es gibt Elfmeter - Christian Steger verschießt. Leonardo verzieht kurz den Mundwinkel - Er weiß, dass die Offensivwelle unserer Spieler jetzt in Gang kommt und nicht mehr aufzuhalten ist: Vier Minuten später wechselt Thomas Schuler per Flankenball die Seite auf Frank Fitz, der nimmt das Leder gekonnt an, lässt einen Wolfsburger aussteigen und setzt das Ding dann aus 19 Metern an der linken Strafraumkante knapp an der falschen Seiten des Pfosten vorbei. Pech gehabt.
Bis zu den Schlussminuten bleiben unsere Jungs nun überlegen: Zehn Minuten vor Spielende tanzt Armiche in Diego Maradona-Manier durch die gegnerische Hälfte, dringt auf diese Art bis in den Strafraum vor - und schlenzt das Gerät dann elegent an Daniel Majer vorbei: leider aber auch am Tor. Drei Minuten später klappt es endlich: Jungspund Dennis Nainggolan spielt diagonal auf Luca Mariani - Der bekommt das Ding kurz vor der Grundlinie unter Kontrolle, verschleppt dann geschickt das Tempo und schlägt eine Flanke auf den Kopf eines herannahenden blonden Engels. Der blonde Engel ist Armiche. 3:1.

Das Stadion explodiert. Das Powerplay zahlt sich jetzt aus. Armiche dreht ab zum Jubeln und läuft und läuft und läuft in Richtung der Bank - und macht zu meiner Überraschung erst kurz vor dem Mann Halt, den er umarmen möchte: mich.
Überrascht nehme ich die geballte Freude auf und juble natürlich gerne mit ihm, frage mich aber, wieso er ausgerechnet mit mir jubeln will. Weiß er etwa von meinem Skandal und zeigt mir so seine Solidarität? Vielleicht sogar alle? Keine Ahnung.
Die Jungs jedenfalls stehen danach vor komplett wehrlosen Wölfen, denen angesichts der Ereignisse wohl der Anrgiffswille abgegangen ist. Sei es Mitleid oder ein akzeptierter Nichtangriffspakt - die restlichen Minuten werden routiniert runtergespielt. Die Jungs schieben sich den Ball zu, genießen die Kontrolle über das Spiel und nur Dennis Nainggolan kann sich einen weiteren Treffer nicht verkneifen als er über den hilflosen Daniel Majer hinweg das Ding aus dreißig Metern unter die Latte zimmert. Was für eine Überlegenheit! Was für ein Fest! Was für eine Stimmung im Stadion! Und was für ein großartiges Gefühl, das Ganze mal von der Bank aus erleben zu dürfen. Ich bin hin und weg.

Dementsprechend gut ist auch die Stimmung in der Kabine. Es wird gelacht, getanzt, gedacht - und ich komme mir vor wie bei einem großen Familienausflug ins Phantasialand, bei dem ich als Onkel auch eingeladen wurde: Fröhliche Spieler singen fröhliche Lieder und es dauert schon eine ganze Zeit bis sich das Ganze wieder in den etwas üblich-freundlicheren Trott verwandelt.
Ich nehme nicht weniger schüchtern als die meisten Spieler teil. Nachdem ich mit gefühlt fünfhundert Händen abgeklatscht, mich noch eine Weile an diesem fantastischen Erlebnis erfreut und meine Sorgen dadurch so ganz vergessen habe, muss ich meine Freude aber wieder ein bisschen der Normalität anpassen - denn Leonardo bestellt mich dann in den Konferenzraum. Während die Siegesfeier der Spieler auch in der Dusche noch ein wenig weitergeht, verlasse ich also Betreuerstab und Kabine und stiefele vom internen Bereich des Stadions aus in den Zulieferungsbereich dessen und von dort in Richtung der Geschäftsstelle. Vom Mitarbeitereingang der Arena aus muss ich einige Meter Gehweg überwinden und durch mehrere Sicherheitskontrollen durch, die ich glücklicherweise durch das Kennen vieler Mitarbeiter recht schnell passieren kann. Genug Zeit also, um ein wenig runterzukommen. Danach folgt ein langer Gang über einige bekieste Steinstufen und nach gefühlt einer halben Ewigkeit stehe ich endlich auf dem Angestelltenparkplatz vor dem Eingang unserer Geschäftsstelle.

Ich gehe rein, entscheide mich aufgrund meiner Ausgelaugtheit ausnahmsweise für den Aufzug und laufe wenig später durch den nur allzu bekannten Flur in Richtung Konferenzraum. Dort angekommen will ich höflichkeitshalber klopfen, aber noch bevor ich auch nur eine Hand an den Türpfosten setze, öffnet sich die Tür und vor mir steht ein leicht gebräunter, dunkelhaariger Mann, dessen leichter Schweiß auf der Stirn es nicht geschafft hat, seine perfekt sitzende Haarpracht in Unordnung zu bringen: Es ist Leonardo.
Unser Trainer lässt mich aber nicht in den Konferenzraum rein. Stattdessen schiebt er mich in Richtung seines Büros und verschließt prompt wieder die Tür. Der Konferenzraum ist offenbar noch besetzt, denn darin brennt Licht. Mit einem schnellen Blick über die Schulter versuche ich meiner Neugier Zugang zum geheimnisvollen Besetzer hinter der Tür zu verschaffen und fange dort auch tatsächlich noch kurz den Blick eines nicht weniger sonnengebräunten Mannes auf, dessen kurzgeschorener Kopf in meine Richtung blickt. Und tatsächlich, ich kenne ihn - es ist Inter Mailand-Manager Ivan Cordoba.

Ich bin ein wenig irritiert. Hat mir Leonardo nicht noch vor zwei Tagen von seinen Vermutungen erzählt, es handele sich bei meiner ganzen Situation um einen Komplott - gestrickt, um durch meine Verstrickung Mario Mocic an Inter Mailand zu binden? Hat er sich da drin etwa gerade erpressen lassen? Mit einem Erpresser verhandelt? Einem Erpresser gegeben, was er will - die Möglichkeit zum Transfer?
Leonardo erahnt natürlich meine Verwirrung. Er bittet mich, Platz zu nehmen und serviert uns beiden ein Glas Kirschlimonade. Dazu gibt es Salzstangen. Dann nimmt er an seinem Bürotisch Platz und wartet bis ich kurz Luft geholt habe. Eigentlich bin ich aber gar nicht aus der Puste, sondern es scheint Leonardo zu sein, der sich eine Pause gönnt.
Nachdem es ganz still im Raum ist, eröffnet er mir Folgendes: Er, Leonardo, habe seit Donnerstag unaufhörlich rumtelefoniert und Fabio einige konkretere Infos über meinen Fall einholen lassen. Als erstes dachten die Beiden, es sei ein Trick von Ivan Cordoba, um durch eine Erpressung an Mario Mocic zu kommen. War es aber nicht. Schon nach einigen Telefonaten hatte sich diese These als Ente herausgestellt. Stattdessen ist Daniele Rucchi, der mit mir an besagtem Abend (neben unbekannten ukrainischen Damen) als letztes zusammengewesen sein müsste, seither verschwunden. Als letztes Lebenszeichen hat Daniele eine textlose Videonachricht an das Smart-iPhone von Ivan Cordoba gesendet: mit Inhalt des bekannten Videos. Was genau dahintersteckt, weiß niemand. Auch Ivan hat keine Ahnung. Wir müssen also - bei aller Sorge um Daniele - in Ruhe weiterforschen und die Angelegenheit vorerst als ad acta gelegt betrachten.

Obwohl mich diese Nachricht noch mehr verwirrt und das Verschwinden von Daniele bei mir abwechselnd für Schockstarre und Denkeinsturz sorgt, kann ich es nicht leugnen: Ich bin erleichtert. Offenbar ist hier tatsächlich etwas faul. Offenbar habe ich wirklich einige minderjährige Ukrainerinnen angegangen, aber offenbar stinkt die Sache so zum Himmel, das ich mir selbst eine Sache sagen kann: Ich bin kein Vergewaltiger. Vielleicht wurde mir tatsächlich etwas untergemischt, aber es ist ungewiss zu welchem Zweck, mit welchem Sinn und welche Verstrickung dahintersteckt. Das alles ist vielleicht weitaus weniger wild als es scheint - Meinem Arbeitgeber schadet es jedenfalls vorerst nicht. Vielleicht geht es ja nicht mal um mich, nicht um mein Leben, nicht um mein unmoralisches Verhalten. Vielleicht ist das Ganze einfach nur verrückt - so verrückt dass es sich wahrscheinlich gar nicht lohnt sich weiter darüber Gedanken zu machen. Vielleicht ist es tatsächlich nur der Alleingang irgend eines durchgeknallten Vereinsangestellten.
Leonardo lächelt.
"Du kannst also ruhig wieder auf Reisen gehen", meint mein freundlicher Beschützer.
Ich lächle zurück.
Unfähig, noch einen klaren Gedanken zu fassen, stehe ich gefühlte Sekunden später wieder auf dem Flur und mache weiter, wo meine Geschichte angefangen hat: zurück in meinem alten Leben, meinem Job eben. Leonardo hat mir aufgetragen nach Spanien zu reisen - Dort würde man mich fürstlich empfangen, um mit mir über eine ganz besondere Begebenheit zu sprechen: den Transfer von Mario Mocic zu Real Madrid. Was für eine Wiedereinführung in meine alte Fußballwelt!

Noch am selben Abend packe ich meinen Koffer und telefoniere mit Fabio. Ich überrede ihn entgegen seinem Willen noch heute Nacht die schnellste Verbindung nach Madrid zu nehmen. Fabio würde lieber noch eine Nacht bleiben - Sein Puls macht ihm zu schaffen. Das ist mir aber herzlich egal - zu groß die Freude und zu groß meine Euphorie nach dieser Woche voller Hin und Hers. Endlich wieder für den Verein auf Reisen! Endlich wieder zurück! Auf ins Ausland also!
Fabio lässt sich unter der Bedingung überreden, dass wir unseren Madrid-Aufenthalt auf jeden Fall um ein paar Tage mehr als nötig verlängern, damit wir nach den Verhandlungen etwas ausspannen können. Ich willige ein und buche in Zusammenarbeit mit einer offenbar sehr jungen Vereinssekretärin aus der spanischen Hauptstadt ein Hotel bis nächste Woche Samstag - Zudem werden wir, nachdem Real-Manager Martin Caceres überraschend schnell von unserer baldigen Ankunft Wind bekommt, auch noch zur La Liga-Partie des spanischen Rekordmeisters gegen Real Valladolid eingeladen. Man würde sich freuen, wenn man die bis dahin hoffentlich abgeschlossenen Verhandlungen mit einem Glas Sekt begießen könne - Natürlich in der edelsten VIP-Lounge des spanischen Nobelklubs und vielleicht sogar mit einer kurzen Beehrung des alten und ehrwürdigen Florentino Perez. Ich sage höflich zu.

Als Fabio und ich am nächsten Morgen (12 Uhr) auf dem Plaza de las Cortes auf unser Taxi warten, fällt mir auf, dass ich meine Sonnenbrille im Hotelzimmer habe liegenlassen. Da eine Stadtrundfahrt ohne Sonnenbrille für mich wie ein Badeurlaub ohne Wasser ist, eile ich unter dem Protest von Fabio rasch dorthin zurück.
Das Zimmerpersonal hat meine Suite in überraschend kurzer Zeit hergerichtet - Das Bett ist frisch gemacht und auf dem Kopfkissen liegt wie üblich unter der exquisiten Schokoladenüberraschung des Tages die aktuelle Ausgabe der El Pais. Als ich mich über das Bett beuge, um mir die Himbeer-Vanille-Praline zu schnappen, lese ich darin Folgendes:

"Inter Mailand: Rucchi tritt zurück

Mailand - Francesco Rucchi (61) ist mit sofortiger Wirkung von seinem Posten als Sportdirektor von Inter Mailand zurückgetreten. Diese Nachricht verbreitete der Verein nach dem gestrigen 3:0-Sieg gegen den FC Genua auf seiner Website. Zuvor wurde bekannt, dass Rucchis Sohn Daniele (32) am Samstag tot in seiner Mailänder Wohnung aufgefunden worden war. Daniele Rucchi war ebenfalls Mitglied im Management des FC Internazionale und starb laut Angaben der lombardischen Polizei an einem erfolgreichen Suizidversuch. Über die Hintergründe der Tat sind keine Informationen vorhanden.
Rucchi brauche nun Zeit, um den Verlust seines Sohnes zu betrauern, heißt es in der Pressemitteilung des Vereins, der zugleich sein tiefes Bedauern über den Tod seines Mitarbeiters zum Ausdruck brachte. Ein neuer Sportdirektor wurde nicht ernannt, stattdessen wird Rucchis Geschäftsbereich bis auf Weiteres von Manager Ivan Cordoba (51) mitbetreut, der damit eine noch nie dagewesene Machtfülle im Verein erhält."

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