Sonntag, 19. Juni 2016

Teil 1: Dienstleistungsdemokratie (oder: Dialog mit dem Fußballgott)

Die Personalplanungen für die kommende Saison stehen an.
"Ich komme gerade aus einem Gespräch mit Mario", sage ich zu Leonardo als wir uns an einem schönen Sonntagnachmittag im Konferenzraum treffen. Es wird frische Kirschlimonade serviert, die Sonne scheint durch die spiegelverglaste Außenfassade, durch die man direkt auf das riesige Trainingszentrum gucken kann, und wir sind gut drauf.
Das liegt nicht nur daran, dass der Frühling sich so langsam seine Bahnen bricht: Die Mannschaft hat gestern mit einer überragenden Leistung den höchsten Auswärtssieg der Vereinsgeschichte nur knapp verpasst. 7:0 fegte man Borussia Dortmund in der letzten Saison aus dem eigenen Stadion - gestern verhinderten zwei Treffer der Hertha die Einstellung dieses Rekordes.

"Und, was sagt er?", fragt mich unser Trainer und lächelt mich an. Er hat gute Laune - Naja, nichts Ungewöhnliches. Leonardo hat eigentlich immer gute Laune. Seit ich ihn kenne lächelt und grinst er immer und hat für jeden ein gutes Wort übrig. Nur einmal habe ich ihn wütend erlebt: als in seinem Büro die Kirschlimonade alle war. Ansonsten kann diesen gemütlichen Italiener eigentlich nichts aus der Ruhe bringen - Gib ihm ein Glas Limonade, setz ihn in die Nähe eines Fußballplatzes und der Kerl hat eigentlich alles, was er zum Leben braucht. Umso gespannter bin ich, wie er auf die Neuigkeiten aus dem Gespräch mit Mario reagieren wird.

Mario ist seit etwa einem halben Jahrzehnt ein unverzichtbarer Teil unserer Mannschaft: Als Linksverteidiger in der Viererkette hat er mittlerweile eine ganze Generation an Innenverteidigern kommen und gehen sehen. Er hat noch miterlebt, wie Jores Okore und Jannik Vestergaard die erste Meisterschaft seit Dekaden eingefahren haben, ist mit Roca und Nico Neidhart gemeinsam Champions League-Sieger geworden - und jetzt ist er mit gerade einmal 26 Jahren immer noch nicht zu alt, um seinen Konkurrenten auf dieser Position (Michael Lumb und Patrick Richter) Paroli zu bieten. Lange Rede, kurzer Sinn: Er ist der überragende Verteidiger in unserer Abwehrkette, aber auch eine Diva - und nun läuft sein Vertrag zum Ende der nächsten Saison aus und wir tun das, was wir in einer solchen Situation immer machen: Wir setzen uns zusammen und sprechen über seine Zukunft.

"Er ist unentschlossen", sage ich zu Leonardo. "Einerseits würde er gerne auch mal bei einem anderen Verein spielen. Er will ins Ausland und weiß auch, dass wir mit ihm eine ganze Menge Geld machen könnten. Andererseits weiß er auch, dass er eigentlich noch gebraucht wird die nächsten ein, zwei Jahre. Wenn wir jetzt Dennis und Luca ins defensive Mittelfeld integrieren wollen, brauchen wir da hinten ein paar erfahrene Leute."

Leonardo sagt erstmal nichts. Dennis (Nainggolan) und Luca (Brunetti) sind wahrscheinlich die beiden talentiertesten defensiven Mittelfeldspieler, die je bei uns im Verein waren. Wir hatten beide für viel Geld geholt, um sie langsam in die Doppelsechs der ersten Mannschaft zu integrieren. Dann ging alles irgendwie recht schnell: In der Winterpause dieser Saison verkauften wir Christopher Reinhard - einen unserer drei Sechser, der es im Gegensatz zu den Beiden nie in die Weltspitze schaffen wird - für gutes Geld nach England und einer der Beiden musste schließlich fest bei der ersten Mannschaft im Kader stehen. Vor ein paar Wochen verständigten wir uns dann mit Philipp Röppnack - unserem Chef auf der Sechser-Position, dessen Vertrag zum Ende der nächsten Saison ausläuft und der mit 29 Jahren auch nicht mehr der Allerjüngste ist -, dass seine Zeit bei uns im Sommer enden wird. Weil uns damit nur noch ein einziger Sechser bleibt, haben wir dann mit Dennis und Luca besprochen, dass sie ab nächster Saison beide fest in der ersten Mannschaft spielen und den zweiten Platz im defensiven Mittelfeld unter sich ausmachen - Talentforderung und -Förderung zugleich also.
Dafür brauchen wir aber natürlich einen stabilen Unterbau. Schließlich können wir uns keine allzu langen Durststrecken leisten, denn als derzeit erfolgreichste Vereinsmannschaft erwartet man von uns, dass wir liefern. Ich kann davon ein Liedchen singen, denn ich war bei mehreren Fanclubtreffen und Sponsorentagen dabei - und das sind auch für Leute mit einem eigentlich stabilen Nervenkostüm wahrlich keine angenehmen Veranstaltungen.

Leonardo sagt weiter nichts. In Momenten wie diesen hat er oft das gleiche Ritual: Er schaut an die Decke, faltet die Hände vor dem Gesicht zusammen und dreht seinen Stuhl abwechselnd leicht in beide Richtungen. Immer, wenn er das macht, habe ich das Gefühl, er nimmt ein Gespräch mit dem Fußballgott wieder auf, das er beim letzten Mal als er diese Haltung eingenommen hat, nicht fortführen konnte - Denn irgendwann, wenn er so dasitzt, holt er plötzlich kurz Luft, schaut einem fest in die Augen und weiß auf einmal wie es weitergeht.
Sicherlich ist das nicht die demokratischste Art, einen Verein zu führen, wenn der Cheftrainer wichtige Entscheidungen lieber mit einem Phantasiewesen als mit den dafür zuständigen Fachleuten ausdiskutiert, aber hey - noch nie hat sich ein Trainer so lange im Verein gehalten wie Leonardo. Und noch nie war ein Trainer so erfolgreich. Was will man also machen? Und stört es mich überhaupt, dass ich mehr Befehlsempfänger als Diskussionspartner für den alten Recken bin?

"Wenn Mario gerne ins Ausländ möchte", sagt Leonardo dann, "horchen wir doch erstmal, ob das Ausland auch Mario möchte". Ich nicke und nach einem abschließenden "Du weißt, was Du zu tun hast" seitens Leonardo bin ich auch schon auf dem Flur vor dem Konferenzraum und mein Über-Ich sieht mein Ich in den schwarzen Sportwagen steigen, den man mir extra für meine Vereinstätigkeit besorgt hat.
Ich weiß genau, was ich zu tun habe. Auf ins Ausland also!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen