Mittwoch, 7. September 2016

Teil 9: Al Pacino

Ich stehe also auf der heruntergekommenen Toilette unseres heimischen Flughafens und die Tür ist verschlossen. Ich habe zwei Möglichkeiten - Möglichkeit 1: Ich haue einfach so lange laut gegen die Tür bis ich von herannahenden Männern, Frauen, Pets oder Babies gehört und befreit werde. Möglichkeit 2: Ich nehme einfach mein Smartphone und telefoniere um Hilfe.
Unglücklicherweise hat es keinen Empfang.
Ich weiche also aus auf Variante 1. Ich hämmere abwechselnd an die Tür, schreie um Hilfe und ärgere mich zwischendurch über die Umstände - Währenddessen läuft mein persönlicher Countdown:
Es vergeht die erste Minute und es passiert nichts.
Es vergeht eine weitere Minute und es passiert immer noch nichts.
Es vergeht eine weitere Minute und es passiert weiterhin nichts. Fabio wird sich allerdings so langsam fragen, wo ich stecke.
Es vergeht eine weitere Minute und ich frage mich, ob ich die Situation nicht einfach als ausweglos akzeptieren und nochmal für kleine Jungen gehen soll (denn ich habe immer noch ein wenig Hähnchen in mir).
Nach der nächsten Minute steht Fabio wahrscheinlich schon auf dem Rollfeld - und nach der nächsten sitzt er im Flieger, schnallt sich an, das Bordpersonal macht vor dem Abflug seine Meldungen und kurz bevor er dann abhebt, wird er noch schnell in der Vereinszentrale anrufen, um mein Verschwinden zu melden. Dann macht er das Handy aus und der Flieger hebt ab.

Manchmal wünsche ich mir, ich hätte klügere Kollegen. Oder wachere. Würde Fabio mir jedenfalls verlorengehen und ich wüsste, dass er sich im wahrsten Sinne des Wortes irgendwo auf dem Klo rumdrückt, würde ich ihn suchen. Lustigerweise ist es aber nicht Fabio, der mich später findet, sondern ein anderes Geschöpf. Circa zwanzig Minuten später als der Flieger längst abgehoben ist, öffnet sich die Tür - Eine herumstreunende Hartz V-Mutter, die sich eigentlich nur um ihr Pet und ihr Baby kümmern wollte, hatte mein Klopfen bei einem Spaziergang durch die weiten Flughafenkorridore gehört.
Von einem netten Hausmeister werde ich befreit und samt Gepäck zurück an den Terminal gebracht. Dort darf ich dann im Büro des Sicherheitschefs warten.

Zwanzig Minuten später kommt dann Yvonne. Yvonne ist eine von drei Sekretärinnen, die in der Chefetage unserer Geschäftsstelle arbeiten und dort die Bürokratie am Laufen halten. Leonardo hat sie geschickt. Fabio hatte ihn wie in meiner Vorstellung zuvor informiert.
Ich denke schon, dass ich gleich wieder die Heimreise antreten muss, aber Yvonne überrascht mich mit einem neuen Auftrag.
"Ich soll Dich von Leonardo grüßen", gurgelt mir die ehemalige blonde Schönheit entgegen, die mich erst nach einigem Suchen gefunden hat und jetzt aus der Puste ist. "Es gibt da ein kleines Problem".
In wenigen Sätzen schildert sie mir, dass zwei italienische A-Jugendspieler, an deren Verpflichtung wir seit geraumer Zeit dran sind, gerade dabei sind, ihre ersten Profiverträge zu unterschreiben. Allerdings nicht bei uns, sondern bei ihrem Stammverein.
Damit, dass das ausgerechnet jetzt passiert, hatten wir nicht gerechnet. Zu gut liefen die Verhandlungen - und zu gut verstanden wir uns mit den Beratern. Allerdings hat der Verein wohl von unseren Gesprächen mitbekommen und wird die Berater ordentlich geschmiert haben, damit sie ihren Talenten Feuer unter dem Hintern machen, doch bei ihnen zu unterschreiben - und damit das auch klappt, muss es jetzt schnell gehen.
Da wir als einer von wenigen einsamen Idealistenklubs versuchen, den Einfluss von Beratern möglichst gering zu halten, kommt für uns ein Wettbieten um den größten Schmierbetrag nicht in Frage. Die Beiden sind noch ziemlich neu im Geschäft - Private Spielerberater ohne Agentur; deshalb wussten sie auch nicht, dass wir auf sowas nicht eingehen. Da sie aber trotzdem bei uns angerufen haben, um den Bonus für sich selber höherzutreiben, wissen wir jetzt immerhin, was zwischen ihren Spielern und deren Verein gerade im Gange ist. Leonardo will jetzt, dass ich sofort nach Italien aufbreche, um die beiden Spieler in einem weiteren persönlichen Gespräch zu überzeugen - die einzige Möglichkeit, wenn wir keine Ablöse zahlen wollen.
Grundsätzlich bin ich dazu gerne bereit, allerdings gibt es eine Sache, die mich übel aufstoßen lässt: Bei dem besprochenen Verein handelt es sich um keinen geringeren als Inter Mailand.

Das gefällt mir natürlich gar nicht. Ich habe absolut keine Lust, auch nur in die Nähe von Leuten zu kommen, die für meine innere Achterbahn vor einigen Wochen verantwortlich sind. Auch ein schnelles Telefonat mit Leonardo kann daran aber nichts ändern - Fabio ist auf dem Weg nach Manchester und somit bin ich der Einzige, dem er soweit vertraut, ihn zu entsenden. Es sei überhaupt ein Glück, dass ich meinen Flieger verpasst habe, denn nach allem, was ihm einer der beiden schmiergeldgierigen Berater am Telefon erzählt hat, könnte es sein, dass sie sogar heute Abend noch unterschreiben. Wahrscheinlich eine von vielen kleinen Racheaktionen von Ivan, mit denen er sich für den Wechsel von Mario Mocic nach Madrid bedankt.
Es steht also fest. Leonardo sagt mir das nicht ohne Bedauern und gibt mir noch zwei Sätze mit: "Der ganze Verein steht hinter Dir" und "Jeder Mensch hat immer eine Chance verdient" für den Fall eines unglücklichen Zusammentreffens mit Ivan. Dann sitze ich auch schon im Flieger.

Während des Fluges nach Mailand werde ich zum hibbeligen Nervenbündel. Ich habe jetzt nämlich Zeit, zu realisieren, dass - auch wenn es unwahrscheinlich ist - die Möglichkeit besteht, dass ich meinen Peiniger schon in wenigen Stunden wiedersehe. Zwar telefoniert währenddessen unser lokaler Scout im Auftrag von Leonardo um ein Treffen mit den beiden Spielern, aber meine blühende Phantasie erzählt mir die tollsten Geschichten von einem Hinterhalt. Mir fallen zahlreiche Möglichkeiten ein, wie Ivan diese Gelegenheit beim Schopfe packt, um mich auf irgend eine Weise zu demütigen. Ich male mir sogar Szenarien aus, in denen ich mich genau wie Daniele tot in meiner Wohnung wiederfinde.
Als ich aus dem Flieger steige, ist es bereits früher Abend und die Dämmerung setzt ein. Die Abendsonne macht sich Gedanken über den Tag und färbt sich rot und die gleichzeitig immer dunkler werdenden Wolken ziehen sich durch den Horizont wie Streifen - Der Himmel sieht somit von Minute zu Minute mehr aus wie das Trikot des AC Mailand. Ich muss schmunzeln.

Abgeholt werde ich von unserem Italien-Scout Biagio Pagano. Der hat - in Absprache mit den Beratern - einen Termin in der Innenstadt ausgehandelt. Weit weg von der Geschäftsstelle der Inter Mailandianer also. Am Ausgang des Airports wartet deshalb auch schon eine schwarze Limousine auf mich. Wegen der abgedunkelten Scheiben könnte man darin durchaus gut einen Mord begehen, aber zum Glück ist Biagio Mitglied unseres Vereins und der Wagen bringt mich nur zum abgemachten Treffpunkt. Ich steige also bedenkenlos ein.
Bei dem abgemachten Treffpunkt handelt es sich um das "Café europea" - Normalerweise ein Ort für die oberen Fans von Inter Mailand, aber es ist ja schon spät und somit ist die Öffnungszeit vorbei.
Als Biagio und ich das Café betreten, ist es dann auch komplett leer - Keine Spur von den Beratern oder Spielern. Aber genau wie das Schmieren sind auch schlechte Manieren nicht unüblich in der italienischen Metropolenstadt. Ich lasse den Blick umherschweifen und gehe herum. Offenbar bin ich dabei aber doch nicht mit Biagio allein, denn nach wenigen Momenten des Umherwanderns sind Stimmen und Gelächter aus einem angeschlossenen Nebenraum unüberhörbar. Ich steuere auf das Szenario zu und stehe dann vor dem Türrahmen eines Raumes, der wohl für intimere Unterhaltungen angedacht ist. Dort haben einige Gestalten Tische und Stühle an den Rand geschoben, sodass in dem tristen Raum neben einer eigenen Theke nur ein einsamer runder Tisch auffällt. Er steht direkt in der Mitte des Raumes und an ihm sitzt eine kahlrasierte, kräftige Gestalt: Es ist der Manager von Inter Mailand. Es ist Ivan Cordoba.

Ivan sitzt, fröhlich an einer Zigarre rauchend, mit einem Glas Weißwein auf seinem Stuhl und schaut mich triumphierend an. Ein wenig hinter ihm, dem Tisch nicht so nahe wie der Wand, sitzt ein mir unbekannter Mann in Schwarz, der ein bisschen so aussieht wie Al Pacino. Er spielt mit einem Taschenmesser. Außerdem ist da noch ein großer, kräftig gebauter Mann im Anzug - Er trägt das Wappen von Inter Mailand. Alle Männer hatten offenbar gerade eine Menge Spaß - oder ihr Spaß fängt jetzt erst an.

Als ich nicht weiß, ob ich wegrennen oder heulen soll, kommt auch schon der Große auf uns zu und 'bittet' uns herein. Er nimmt uns unsere Mäntel ab und parkt Biagio an der Theke, ich werde höflich zum Tisch in der Mitte des Raumes gebeten. Dort wartet ein leerer Stuhl auf mich. Ich setze mich also unfreiwillig hin.
Ivan hängt an seiner Zigarre und schaut mich an. Er fragt, ob ich etwas trinken will. Verunsichert frage ich nach einem Glas Wasser und auf ein Zeichen begibt sich der Große hinter die Theke und schenkt ein. Nachdem er mir das Glas serviert hat, setzt er sich hinter Ivan neben Al Pacino. Alle Drei schauen mich gespannt an.

Ich kriege nicht wirklich einen geraden Satz raus - zu überrascht bin ich dann doch von den Geschehnissen. Ich ertappe mich dabei, wie ich mich frage, wann sich Ivan in ein Einhorn verwandelt und einfach weg galoppiert.
Den Gefallen tut er mir aber nicht - Das ist hier ist kein Traum. Ivan schaut mich einige Momente abwartend an und beginnt dann mit der Gesprächseröffnung. Während er anfängt zu sprechen, zupft er an seinen Ärmeln herum.
"Ich nehme an, Du hast erwartet, hier zwei Spieler zu treffen", meint er fast beiläufig. Er tut so als würde seine Hauptbeschäftigung auf dem Geraderücken seiner Ärmel liegen. Dann schaut er mich wieder an - Er nimmt seinen Kopf hoch, sieht mein immer noch überraschtes Gesicht und grinst: "Tut mir leid, die Beiden haben schon bei uns unterschrieben. Sie sind vor fünfzehn Minuten weg". Nach einer kleinen Künstlerpause grinst er weiter: "Wir können aber jederzeit gerne über eine Ablöse reden", meint er.
Ich nicke und schüttele gleichzeitig meinen Kopf. Das kann ja wohl nicht war sein. Mistkerl... Arschloch... "Das... muss ich erst mit Leonardo besprechen."
Ivan grinst. Er wirft den Kopf zurück und sagt: "Na gut, dann geh. Geh und rede mit Deinem Meister."
Der Große lacht laut auf.
"Und dann komm mit einem passenden Angebot wieder", sagt Ivan.
"Meine Faust in Deinem Gesicht ist doch etwas Passendes", nuschele ich in mich rein.
Für Ivan war das aber kaum zu überhören. Wie ein Elefant, dem plötzlich der Rüssel verstopft ist, macht er sein Gesicht ganz lang. Dann meint er: "Guck mal, Michael. Ich will jetzt nicht unhöflich sein..." (Dabei verzieht er 'gekränkt' den Mund) "...aber Du kommst hier zu uns - ohne Hallo, ohne zu fragen, wie es geht, ohne ein Wort des Beileids. Du hast ja sicher gehört, dass vor Kurzem einer unserer Mitarbeiter gestorben ist..."
Ich lache sarkastisch auf. "Ja, warum wohl..."
"Warum wohl?", sagt Ivan mit zusammengekniffenen Augen. "Was soll das denn für ein Kommentar sein?"
Ich stehe auf. Die Stimmung im Raum gefällt mir gerade gar nicht. Und sowieso - ich komme mir ein bisschen vor als würde ich mit dem Paten II verhandeln. Nur war der Pate II eben nicht so scheiße.
"Rede mit Deinem Meister", wirft mir Ivan abfällig hinterher. Und dann: "Ich kann wirklich nicht verstehen, wieso er Dich noch im Amt lässt..."
Ich überlege kurz, ob ich mich kurz umdrehen und ihm das Wort 'Loyalität' erklären soll, entscheide mich aber gegen diese Variante. Alternativ ist da noch die Variante mit mir und meiner Faust - aber auch die verwerfe ich. Ich packe Mantel und unseren Scout und verschwinde schnell aus dem Zimmer. Auf dem Weg zur Limousine macht Biagio allerlei Entschuldigungen - Er habe das nicht gewusst. Ich winke ab - Das Leben ist kein Ponyhof.

Als ich am nächsten Morgen mit Leonardo telefoniere, ist dieser nicht sauer.
"Ich kann Dich verstehen", sagt mir unser Trainer. Er hat so etwas bereits befürchtet - Wie jeder andere Logiker auch hat er ein solch bescheuertes Schauspiel aber für völlig absurd gehalten. Ivan mag vielleicht ein rücksichtsloser Mörder sein, aber einer mit Spaß am Provozieren? So ein richtiges Schwein, das sich dann auch noch hinsetzt und genüsslich darauf rumhackt? Das hätte außer meiner Phantasie wohl keiner erwartet. Nicht mal Leonardo hätte das gedacht.
"Ich hätte Dich da niemals hinschicken dürfen", sagt mir unser Trainer. "Es tut mir leid". Wenige Momente später fügt er allerdings mit einem unüberhörbaren Augenzwinkern hinzu: "Immerhin - es hätte schlimmer kommen können. So wie Du das erzählt hast, klingt es für mich wirklich wie ein Film mit Al Pacino."
Ich lache. "Nur spielt der im Film die Hauptrolle."

Nach diesem gescheiterten Versuch brauche ich dringend Aufmunterung. Deshalb beordert mich Leonardo für den Rest der Woche in eine andere Ecke Italiens, genauer gesagt nach Rom - Dort hat unser Verein nämlich gerade seinen ersten Fanshop eröffnet. Mitten in der Innenstadt. Und wer ist da besser geeignet als ich, um mal nach dem Rechten zu sehen? Selbstverständlich ist hier nicht der gemeint, der diesen Fanshop schmeißt - Das ist nämlich kein Rechter.

Die anschließenden Tage vergehen wieder wie im Flug und am Freitag sitze ich im Flieger zurück nach Hause. Es ist der 5. Mai und morgen steht der 33. Spieltag der Fußball-Bundesliga an. Selbst, wenn wir das Spiel nicht gewinnen, könnte ein Unentschieden oder eine Niederlage des FC Bayern uns zum vorzeitigen Meister machen. Die spielen beim Drittplatzierten in Dortmund.

Für uns geht es gegen den SC Freiburg - ein Team, das sich mit konstant guter Jugendarbeit und klugen Spielerkäufen in diesem Jahrzehnt wirklich gemausert hat. Während Vereine wie wir nämlich die Top-Talente Europas jagen und andere an dem Versuch scheitern, es uns gleichzutun, hat man sich in Freiburg für einen anderen Weg entschieden: akzeptieren, dass man in den nächsten Jahren weiter eine graue Maus sein wird und Spieler holen, die noch nicht zu alt sind und es bei ganz großen Teams nicht geschafft haben oder nie schaffen werden und diese über Jahre zu einer eingeschworenen Einheit entwickeln.
Es gibt eine Reihe von Freiburger Spielern, die gute Beispiele für diese Philosophie sind: Neben dem derzeit leider verletzten Top-Torjäger Marian Urtic fallen mir da vor allem Spieler wie Torwart Luca Zanotti und Offensivmann Norman Teichmann ein - Zanotti hat es bei uns nicht geschafft, sich gegen den damaligen Stammtorwart Patrick Rakovsky durchzusetzen und Norman Teichmann war nach seiner Jugendzeit in Bayern nicht gut genug für die Profis in München. Heute sind sie unverzichtbare Stammkräfte für die Breisgauer.
Garniert mit eigenen Talenten und erfahrenen Spielern wie unsere Ex-Profis Mathias Ginter und Benito Raman ergibt das ein homogenes und ambitioniertes Team. Mittlerweile sogar eins, das Dauerkandidat für die Europa League ist - und diese sogar vor zwei und drei Jahren gewonnen hat. Von der grauen Maus ins große Haus also.
Auch beim Spiel gegen uns geht es für den SC Freiburg wieder um Europa. Im spannenden Kampf um Rang 7 müssen die Breisgauer dringend punkten, um die Konkurrenten Gladbach, Bremen und Schalke abzuschütteln.